Zurück in die Zukunft am Grabowsee
„Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück“, sagt eine alte chinesische Weisheit. Für Bernhard Hanke eine Art raison d'être - auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Wie er auf dem wackeligen Klappstuhl sitzt, mit Zimmermannshose und gestreiftem Hemd. Vor der Ruine eines einst prächtigen Backsteingebäudes.
„Ich weiß, was Schwimmen gegen den Strom ist. Ich bin an drei Flüssen aufgewachsen“, sagt der gebürtige Passauer und lauscht den Stimmen des Waldes. „Nachts hört man die Nachtigall singen.“ Heute Morgen habe er einen toten Uhu gefunden. Doch Hanke, Jahrgang 61, hat weitaus mehr im Sinn als die Vögel des Waldes. Wer ihn besucht, erlebt eine Art Bildungsreise, in dem es um Aufbruch und Verfall geht, um Neubeginn und Entwicklung. Sie beginnt nicht in Passau, sondern in der Nähe von Oranienburg, 30 Kilometer nördlich von Berlin. Vor mehr als 100 Jahren.
Nachdem die Anzahl der Tuberkuloseerkrankungen im 19. Jahrhundert stark angestiegen war, öffnete 1896 auf Initiative des Volksheilstättenvereins des Roten Kreuzes die Lungenheilstätte Grabowsee. Ursprünglich war sie als Versuchseinrichtung geplant, in der man lernen wollte, ob Lungenkrankheiten auch auf dem platten Land kuriert werden können. Zu jener Zeit ging man davon aus, dass dies lediglich in mediterranem oder alpinem Klima möglich ist. Doch die Kapazitäten wurden recht schnell auf 200 Betten ausgebaut. Fortan galt die Heilstätte Grabowsee als erste ihrer Art in Norddeutschland.
Während des 2. Weltkrieges fand die zivile Nutzung ein rasches Ende. Zunächst zog die Wehrmacht ein, später die Rote Armee. Seit den 1990er Jahren liegt das Gelände brach. Der Besucher wandelt durch Räume und Gänge, aus denen alles herausgerissen wurde, was nicht niet- und nagelfest war. Streicht wehmütig über bröckelnden Putz. Steigt über Schutt und Scherben. Blickt auf marode Balkone, windschiefe Dächer, durch zerborstene Fenster. Hört die Vögel zwitschern, den Wind mit den Blättern des Laubwalds rascheln und wird unweigerlich an Endzeitszenarien erinnert.
Vandalismus und 20 Jahre Leerstand haben den greisen Backsteinbauten beinahe den Todesstoß versetzt. Wer eine Schwäche für imposante Ruinen, romantische Wälder und idyllische Seen hat, kommt hier auf seine Kosten. Erst recht all jene, für die Anderssein und Andersdenken nicht nur ein Lippenbekenntnis ist.
Dass ein Besuch der ehemaligen Lungenheilstätte möglich ist, dafür sorgt Bernhard Hanke, der über den Berliner Verein Kids Globe e.V. das Gelände seit drei Jahren verwaltet und als Ansprechpartner für Besucher fungiert. Wie es dazu kam, erfährt man bei einem Spaziergang.
„20 Jahre Bayern waren genug“, sagt der gelernte Landschaftsgärtnermeister rückblickend auf das Jahr 1985, als ihn sein Weg von Passau über Djon nach Freiburg führte. Auch wegen der Freundin, wie er einräumt. In der Stadt an der Dreisam machte er sich selbständig und arbeitete schließlich mit dem Verein Freiburger Spielmobil zusammen, um Freizeitprojekte für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Ahnung von Spielplatzbau hatten weder Hanke noch der Verein. Man lernte gemeinsam und schuf u.a. den „Tollplatz“, Freiburgs größten Spielplatz. „Das war das Urprojekt“, erinnert sich Hanke. Ein zweites war bereits im Entstehen.
Dafür zog Hanke 2004 nach Berlin. „Weil Freiburg vielleicht trinational aber nicht international ist“. In Berlin habe es Entwicklung und Umbruch gegeben. 2005 gründeten er und elf Gleichgesinnte Kids Globe e.V. mit dem Ziel, eine internationale Akademie zu schaffen und damit Bildung neu zu definieren. Was das heißt, darüber kann Hanke abendfüllend referieren. Kurz gesagt, steht Kids Globe für Anwendung statt auswendig lernen. Für ausprobieren und hinterfragen: Warum sind wir auf diesem Planeten und wie wollen wir zusammenleben? Wie kann Bildung in 10-15 Jahren aussehen?“ All das treibt Hanke um und an. „In 30 Jahren gehört die Welt unseren Kindern.“ Darauf müsse man sie vorbereiten. Einen Ort für seine internationale Bildungsakademie, die sich als Ergänzung zu Schulen und Universitäten versteht, hat er bereits gefunden – 34 ha mitten im Wald.
„Als erstes braucht man einen Raum. Dann musst du ein Konzept entwickeln, um den Raum zu definieren und zu füllen.“ Weil Bildung so allumfassend sei, brauche es eben einen so großen Raum. Und der hat es in sich. Denn zu dem schönen Waldgrundstück vor den Toren der Hauptstadt, in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, gehören nicht nur Bäume und Vögel sondern 30 ausgemergelte Gebäude. Die Hälfte davon denkmalgeschützt. Von monumentalen Dimensionen zu sprechen, ist sicher nicht übertrieben.
Hanke holt tief Luft und weist mit ausladender Geste auf das in weiten Teilen noch immer begehbare Areal. Zentraler Blickfang ist das ehemalige Verwaltungsgebäude mit Asklepios-Portal und großem Saal. Von hier führen überdachte Verbindungsgänge in die ehemaligen Behandlungs- und Bettenhäuser. Allesamt steinerne Zeitzeugen, die dem scheinbar unweigerlichen Siechtum trotzen – unverdrossen, beinahe altersstarr. Darunter schlummern die Reste einer Elektro-U-Bahn, mit der die Speisen von der Hauptküche in die Stationen transportiert wurden.
Direkt am Seeufer steht das Relikt einer hundertjährigen Kapelle, das in die Baumwipfel ragt wie ein hohler Zahn, seit das Gebäude 2007 von hirnlosen Nichtsnutzen in Brand gesteckt wurde. Überall wachsen Fliederbüsche und Blauregen, Rotbuchen, Erbsensträucher und Berberitzen, als würde sie der Verfall drumherum nicht die Bohne interessieren. Und der Laubwald grünt wie verrückt, als gelte es einen Ökowettbewerb zu gewinnen. Sein Anblick allein scheint jedwede Form von Krankheit vergessen machen zu wollen.
Ginge es nach Hanke, sollen im historischen Gemäuer nun Bibliotheken, Ateliers, Werkstätten, Herbergen, Kunst- und Musizierräume entstehen, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Demokratie, Geschichte, Handwerk, Kunst, Medien und Wirtschaft beschäftigen. Um das internationale Klassenzimmer zum Fliegen zu bringen, will Kids Globe das Gelände dem Eigentümer, einem Berliner Geschäftsmann, abkaufen und in eine Stiftung überführen. Für 10 Mio. Euro. Weitere 40-50 Mio. Euro erfordert die Komplettsanierung. Und spätestens jetzt stellt sich die Frage, ob der Passauer Landschaftsgärtnermeister von Sinnen ist. Der jedoch lässt sich nicht kirre machen.
„Natürlich ist das kein Zweimannbetrieb.“ In Relation zu einem Großkonzern allerdings, sei das hier ein Floh. Man müsse die Dinge aus der Entwicklung betrachten. Vor 20 Jahren wäre er komplett überfordert gewesen. Und als er zum ersten Mal über das Gelände lief, habe er weiche Knie bekommen, weil ihm klar wurde, wie klein seine Welt bisher gewesen sei. Um sich zu entwickeln, müsse man loslassen. Sich ein Ziel setzen. Und Zeit haben. Auch ginge es nicht darum, fertig zu werden. Natur und Umwelt seien nie fertig. Unternehmen ebenfalls nicht. „Das wichtigste ist, dass man sich mit Kindern beschäftigt.“ Denn wenn die nichts zu tun hätten, fange der Blödsinn an.
Hanke selbst fokussiert sich derzeit auf Kommunikation und Sponsorensuche. Persönlichkeiten wie Würth und Klatten habe er angeschrieben. Die allerdings bekämen solche Briefe kofferweise. Also setzt er auf Öffentlichkeit. „Das Vorhaben muss rein in die Gesellschaft.“ Deshalb strebt er Partnerschaften an. Beispielsweise mit Berliner Schulen, der Freien Universität, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der Robert Bosch Stiftung, der Filmhochschule Babelsberg und dem Mathematik-Museum in Gießen.
Im November 2012 führte ein Anruf Hankes in Babelsberg zu einem Besucher von besonderer Prominenz: George Clooney erschien auf der Suche nach Drehorten für seinen Film „The Monuments Men“. Sechs Monate später rollten Panzer, Kettenfahrzeuge, Lastwagen und Sattelschlepper an. 7-8 Minuten lang sind die Szenen, die es vom Grabowsee in die Kinosäle der Welt geschafft haben.
Bis ein Mäzen gefunden ist, darf Hanke das denkmalgeschützte Objekt sichern und verwalten. „Seit wir hier sind, gibt es keine Einbrüche mehr.“ Das Wir sind er selbst und Ursl, ein kaukasischer Hirtenhund, der ungebetene Besucher so lange grimmig anknurrt, bis der Hausherr Entwarnung gibt.
Das Bildungsprojekt Grabowsee ist allein deshalb interessant, weil es einen zwingt, sich mit Hankes zuweilen nonkonformistischen Gedanken auseinanderzusetzen, die er mit den Besuchern teilt, sofern die Chemie stimmt. „Ich würde gern einmal mit einem verurteilten Mörder zusammenarbeiten“, sind so Aussagen, die sein Anderssein trefflich beschreiben. „Man muss verstehen, wie Aggression entsteht. Wenn jemand auf die schiefe Bahn gerät, dann vielleicht deshalb, weil es keine andere gab.“ Ein Mörder sei Experte was Mord und Gefängnis angeht. Würde man das Mordproblem lösen, dann sei Diebstahl eine ganz einfache Lösung. „Wie beim Marathon – wenn du 42 km schaffst, sind 10 km ein Klacks.“
So sind die ersten Schritte getan. Hans-Joachim Laesicke, Bürgermeister von Oranienburg und der Trompetenvirtuose Prof. Ludwig Güttler, der sich bereits für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche engagierte, haben Grußworte in Hankes Konzept geschrieben. Alt-Bundespräsident Roman Herzog übernahm die Schirmherrschaft. Der Grundstückseigentümer sei ebenfalls im Boot.
Und Hanke selbst hat klare Vorstellungen. Man müsse in kurzen Wegen und modularen Systemen denken. Schritte vorausplanen und das Team mitnehmen. Kommunikation sei wichtig. Zeit, Verständnis, Aufmerksamkeit. Ein gutes Gefühl für Menschen und die eigenen Schwächen. „Such dir Partner, die besser sind als du selbst. Und wenn du dir nicht zu viel in die eigene Tasche lügst, kriegst du sehr viel Unterstützung“, sagt der Bildungsvisionär, der Fachabitur und Ausbildung lediglich mit Ach und Krach geschafft haben will.
„Fertig?“ Hanke muss seine Abendrunde drehen und ruft Ursl. Bleibt zu hoffen, dass die ehemalige Lungenheilanstalt am Grabowsee endlich aus dem Schlaf gerüttelt wird. Oder wie Prof. Ludwig Güttler in seinem Grußwort formuliert: „Der größte Feind einer jeden Initiative ist nicht das Gegenargument, an dem man sogar noch wachsen kann, sondern die Gleichgültigkeit.“
Alle Fotos: Rolf G. Wackenberg
Verweise:
Pingback: Portrait comission: The pianist (Anna Köbrich) – Christina Heurig – Heartmill Lands