Ursula Pidun


Stühlerücken im Kanzleramt

Die Kanzlerin möge die Vertrauensfrage stellen, forderte FDP-Chef Lindner nach dem Regierungs-Desaster der vergangenen Monate, Wochen und Tage. Angela Merkel jedoch sieht "keine Notwendigkeit", diese außerordentliche verfassungsrechtliche Möglichkeit zu nutzen. Zu Recht? Eine Betrachtung von Ursula Pidun.

Angela Merkel

Angela Merkel sieht keine Notwendigkeit, die Vertrauensfrage zu stellen.

Fotorechte: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa

Willy Brand (SPD), Helmut Schmidt (SPD), Helmut Kohl (CDU), und auch Gerhard Schröder (SPD) wagten es in ihrer Eigenschaft als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Letzterer gleich zweimal, und zwar im Jahre 2001 und später im Jahre 2005. Die Rede ist von der Vertrauensfrage, die dem Parlament in einer Regierungskrise gestellt werden kann. Auch auf Länderebene gibt es diese Möglichkeit. So scheute es der einstige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen 2009 nicht, im Länderparlament diese so wichtige Frage zu stellen: Steht es tatsächlich noch hinter dem jeweiligen Amtsträger und stimmt es in der Mehrheit noch mit dem Regierungshandeln des Mandatsträgers überein?

Mut, die Vertrauensfrage zu stellen

Mut gehört schon dazu, sich einem solchen Szenario zu stellen. Immerhin kommt es im Falle eines negativen Ergebnisses oftmals zum Rücktritt der Regierung oder zu Neuwahlen. Für die oben benannten Kanzler gab es in allen Fällen gewichtige Gründe, sich der Vertrauensfrage bzw. einem Misstrauensvotum zu stellen. Es dient dazu, Regierungskrisen schnell zu beenden, damit es im Land nicht zu einer handlungsunfähigen Regierung kommt.

Hierzulande legitimiert Art. 68 Grundgesetz (GG) diese Möglichkeit. Dazu muss der jeweilige Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin einen speziellen Antrag an den Bundestag stellen mit der Bitte, ihm/ihr das Vertrauen auszusprechen. Während Gerhard Schröder 2001 nach umfangreichen Bemühungen zur Frage der Beteiligung deutscher Soldaten am Afghanistan-Einsatz seine Fraktion auf Linie bringen konnte und die Vertrauensfrage gewann, verfolgte er 2005 – wie schon zuvor Willy Brandt (SPD/1972) und Helmut Kohl (CDU/1982) – ein ganz anders Ziel: Sie wollten die Vertrauensabstimmung im Parlament gezielt verlieren, um Neuwahlen den Weg zu ebnen.

Mit Neuwahlen den Souverän um Legitimation bitten

Willy Brand scheitere mit dieser Frage aufgrund seiner damaligen Ostpolitik und Helmut Schmidt stolperte geplant über den Nato-Doppelbeschluss. Auch Helmut Kohl wollte Neuwahlen absichtlich mit der Vertrauensfrage den Weg bahnen und damit den Souverän selbst um die Legitimation seiner Regierung bitten. Gerhard Schröders Vertrauensfrage schließlich fußte auf Auswirkungen der Agenda Reform und hier explizit der Hartz IV-Gesetzgebungen. „Geben wir den Menschen die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Staat sie wollen“, äußerte er damals im wahren Wortsinn souverän.

Nicht so Angela Merkel. Sie sieht keine Notwendigkeit, die Vertrauensfrage zu stellen. Zu einer vierten Kanzlerschaft hatte sie sich eigenen Aussagen zufolge 2017 nach gründlichen Überlegungen über einen längeren Zeitraum „durchgerungen“. Ob dieser Schritt strategisch günstig war, sei dahingestellt. Eine positive Gesamtbilanz bemisst sich allerdings an Resultaten und nicht an der Länge der Amtszeit. Trotz prosperierender Wirtschaft und boomenden Wachstumszahlen war die Unzufriedenheit in Teilen von Politik und Gesellschaft schon zum Ende der dritten Legislaturperiode der Kanzlerin deutlich zu vernehmen. Massive Störeinflüsse aus der Schwesterpartei CSU sorgen seit drei Jahren für Ärger, Unstimmigkeiten und Frust. Sie zählen bereits zum politischen Tagesgeschehen.

Abtritt als „lahme Ente“

Nach einer überaus holprigen und langwierigen Regierungsbildung kam es nach der Bundestagswahl 2017 zwar schließlich zu der von Angela Merkel präferierten Großen Koalition. Doch das Stolpern und Holpern nimmt bis dato weiter zu. Desaster und Possenspiel im steten Wechsel – Regierungsstabilität sieht anders aus. Mit der aktuellen Abwahl ihres engsten Vertrauten Volker Kauder (CDU) schließt sich der Kreislauf des Machtverlustes der Kanzlerin vorerst, doch gestoppt ist er nicht.

Ganz klar: Ein Abtritt in dieser Phase der Kanzlerschaft nach einer möglichen Niederlage in der Vertrauensfrage wäre in Hinblick auf die persönliche Biografie fatal. Doch schon seit 2016 kursiert in Hinblick auf Merkels Kanzlerschaft die Angst vor der berühmt-berüchtigten lame duck, der „lahmen Ente“. So wird in den USA ein Politiker bezeichnet, der sich zwar noch im Amt befindet, aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr gewählt werden kann und daher schon jetzt als handlungsunfähig gilt. Angela Merkel zeigt sich aktuell extrem geschwächt und die Koalition wackelt inkonsistent vor sich in. Es bedarf schon so einiger Kunstgriffe, viel Kraft und Optimismus, um sich aus der eklatanten Abwärtsspirale herauszuarbeiten. Erkennbar wird dies nicht.

Man nennt es Demokratie

Mit Rücktritten hochrangiger Politiker ist es seit jeher so eine Sache. Wie es aussieht, bildet auch die Kanzlerin keine Ausnahme. Zu stark wiegt der Gedanke, unentbehrlich zu sein, zu schwach noch erkennbar, mit welchem Erfolg die Kanzlerin Geschichte schreiben kann. Die Angst vor Neuwahlen im Angesicht des Erstarkens der AfD wiegt argumentativ schwer. Dies sollte aber niemals die Begründung sein, einer Vertrauensfrage oder dem freiwilligen Rückzug aus dem Wege zu gehen, zumal die stark neoliberal geprägte Politik der vergangenen 13 Jahre mit dem einhergehenden, dramatischen Abbau der Sozialen Marktwirtschaft erheblichen Anteil an den bedenklichen Entwicklungen trägt. Eine Regierung ist am Ende immer nur so gut, wie das Maß der Legitimation durch den Souverän. Man nennt es Demokratie und sie zu stärken, hat am wenigsten mit einem beharrlichen Posten- und Machterhalt zu tun.