Ursula Pidun


Kontrollmechanismen im Deutschen Bundestag außer Kraft? Interview mit Vera Lengsfeld (CDU)

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld (CDU) saß von 1990 bis 2005 im Deutschen Bundestag und sieht nun die parlamentarische Kontrollfunktion in Gefahr. Frustrierte Abgeordnete agieren demnach zunehmend als Abnicker. Zum Ausgleich werden jede Menge Posten und Pöstchen geboten, erläutert die Politikern.

Vera Lengsfeld (CDU)saß von 1990 bis 2005 als Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Kürzlich machte sie mit harscher Kritik zum Parlament von sich reden. Die ehemalige Politikerin ist überzeugt, dass Abgeordnete im Deutschen Bundestag überwiegend nicht wüssten, worüber sie abstimmen. Sie vergleicht den Bundestag mit der früheren DDR-Volkskammer und sorgt sich um die demokratischen Kontrollmechanismen. Wir haben nachgefragt.

Vera Lengsfeld

(Foto: Deutscher Bundestag,

Achim Melde/Lichtblick)

Frau Lengsfeld, Ihre Kritik am Deutschen Bundestag ist mehr als deutlich. Welche Vorgänge bringen Sie zu dem Vergleich, der Bundestag agiere wie die ehemalige DDR-Volkskammer?

Den Vergleich habe ich aus aktuellem Anlass gezogen. Bei der kürzlichen Abstimmung von ESM und Fiskalpakt lag nicht der vollständige Text vor. Zudem war zum Zeitpunkt des Votums die deutsche Übersetzung noch nicht fertig gestellt. Wie viele Bundestagsabgeordnete sprechen so gut Englisch, dass sie einen komplizierten juristischen Text voll erfassen können?

Wer den Text zum ESM gelesen hat weiß, dass der Vertrag auf eine Entmachtung der Nationalparlamente zugunsten eines nicht gewählten EU-Gouverneursrates herausläuft. Wer so etwas abnickt, nimmt seine Aufgabe als frei gewählter Abgeordneter nicht ernst.

Bezieht sich Ihre Kritik denn im Besonderen auf Entscheidungen rund um die Euro- und Finanzkrise oder tangiert sie auch andere Bereiche?

In der gegenwärtigen Eurorettungskrise wird nur deutlich, was es in den Jahren zuvor versteckt schon gegeben hat. Die Abgabe der Verantwortung und damit der Macht an einen nicht gewählten, nicht rechenschaftspflichtigen Funktionärsapparat in Brüssel.

Ein Beispiel: Als Mitglied des Umweltausschusses war ich Berichterstatterin meiner Fraktion für die EU-Chemikalienverordnung. Ich bekam über 1000 Seiten Text am Abend vor der Verabschiedung im Ausschuss. Selbst wenn ich promovierte Chemikerin gewesen wäre und mehrere promovierte Chemiker an meiner Seite gehabt hätte, wäre es unmöglich gewesen, das Werk in einer Nacht durchzuarbeiten und die Folgen der neuen EU-Richtlinien für die deutsche Chemieindustrie abzuschätzen. Also bleib mir nur, als Berichterstatterin auf diese Problematik hinzuweisen und mit Nein zu stimmen. Die Chemikalienverordnung wurde natürlich trotzdem beschlossen.

Deutlicher wird das noch beim unsinnigen Glühlampenverbot. Da wurde eine ausgereifte Technik verboten zugunsten einer völlig unausgereiften und gefährlichen „Energiesparlampe“, die jeden Haushalt in eine Sondermülldeponie verwandelt. Die Quecksilberthermometer wurden verboten, wegen der Gefahr, die vom ausgetretenen Quecksilber ausgeht. In jeder Energiesparlampe befindet sich Quecksilber. Es gibt viele Energiesparlampen in einem Haushalt, aber in der Regel nur ein Thermometer. In der Gesamtbilanz spart die EU- verordnete Technik keine Energie ein, sondern schafft neue Probleme. So etwas passiert, wenn die demokratischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt sind.

Sie haben viele Jahre im Bundestag gesessen. Würden Sie sagen, die von Ihnen kritisierten Verhaltensweisen der Abgeordneten haben sich im Verlauf der Jahre verstärkt?

Die Zäsur war die Große Koalition. Die Abgeordneten bekamen überwiegend die Vorlagen von der Regierung, denen nur noch zugestimmt werden musste und konnte. Den frustrierten Abgeordneten wurden als Ausgleich jede Menge Posten und Pöstchen geboten, z. b. schnellte die Zahl der parlamentarischen Staatssekretäre auf 55 hoch, sie konnten mehr als bisher rumreisen und ihre Altersbezüge wurden dramatisch verbessert, wenn ich mich richtig erinnere.

Die Hoffnung, dass sich mit der Schwarz-Gelben Koalition was ändert, hat getäuscht. Im Gegenteil. Inzwischen haben wir einen Allparteienkonsens in vielen wichtigen Fragen wie Atomausstieg, Energiewende, Eurorettungspolitik.

Verschiedene Parteien, eine Meinung. Das hatten wir in der DDR auch. Damals hieß das „Nationale Front“. Das Geheimnis des Erfolges offener, demokratischer Gesellschaften ist aber der Wettbewerb unterschiedlicher Ideen und Standpunkte. Das führt nicht immer zur optimalen Lösung, aber jedenfalls viel häufiger, als wenn eine Einheitsmeinung die Denkrichtung vorgibt.

Sie äußerten auch, Abgeordnete würden über Gesetzentwürfe abstimmen, die ihnen zuvor nie vorlagen? Wie kann das sein? Gesetzentwürfe müssen den Abgeordneten vorgelegt werden. Es gibt dahingehend keine „Kann“-Bestimmung.

Im Falle der ESM- Abstimmung lag der vollständige Text jedenfalls nicht vor. Da wurde das Gesetz gebrochen. Wie wir durch einen Brief des Bundestagspräsidenten Lammert an Finanzminister Schäuble inzwischen wissen, hatte bei der Abstimmung über die Hilfen für spanische Provinzbanken der Minister die Abgeordneten nicht vollständig über die Verhandlungen informiert. Abgestimmt wurde trotzdem, obwohl jeder Abgeordnete wissen konnte, dass sein Kollege Frank Schäffler schon 14 Tage vor der Plenarsitzung auf gravierende Informationsdefizite hingewiesen hatte.

Folgen Ihrer Meinung nach viele Abgeordnete oftmals nur noch den Ausschussempfehlungen, weil sie selbst praktisch keine Ahnung haben?

Ein Abgeordneter kann nicht alles wissen. Ein Außenpolitiker wird sich kaum in Gesundheitsfragen auskennen, ein Agrarpolitiker nicht in juristischen Fragen usw. Man muss sich also auf Ausschussempfehlungen verlassen (können). Wenn aber über EU-Vorgaben abgestimmt wird, die, wie ich beschrieben habe, extrem kurzfristig zur Verfügung gestellt werden, ist eine seriöse Beurteilung nicht möglich und eine Ausschussempfehlung ist dann möglicherweise nicht mehr als Ausschuss.

Haben Abgeordnete in Ihrer Sicht die Kontrollfunktion im Parlament bedingt durch das eigene defizitäre Verhalten an den Nagel gehängt?

Ich möchte nicht darüber spekulieren, welches Selbstbild die Abgeordneten haben. Mir fällt auf, dass es bei der Auswahl der Parlamentarier immer weniger nach fachlicher Kompetenz geht, sondern innerparteiliche Proporze ausschlaggebend sind. Das „richtige“ Geschlecht, Alter, die Größe des Kreisverbandes, die entscheidenden Seilschaften – das bestimmt heute, wer Abgeordneter wird, nicht die Qualifikation. Dass solche Nicht- Kriterien dann auch Auswirkungen auf die Qualität der Parlamentarier haben, kann nicht verwundern.

Hinsichtlich der gerade erst erfolgten Abstimmung zu den Bankenhilfen für Spanien wurden die Abgeordneten auf Kosten der Steuerzahler aus dem Urlaub zurückgeholt. Waren diese Kosten in Ihrer Sicht tatsächlich erforderlich?

Die Spanien- Abstimmung hätte man auch im Umlaufverfahren machen können. Wenn nicht alle Informationen vorliegen, ist eine wirkliche Diskussion nicht möglich. Insofern wurde uns ein parlamentarisches Sommertheater vorgeführt.

Wenn jemand glaubt, die Bürger hätten das nicht mitgekriegt, der täuscht sich. Ich bekomme noch nach über einer Woche nach meinem Volkskammervergleich zustimmende Mails, manche sehr ausführlich. Mit einer einzigen Ausnahme nur positive Reaktionen.

Welche Möglichkeiten würden Sie sehen, um dem Parlament bzw. den Parlamentariern wieder mehr Kraft und damit Ansehen zu verschaffen?

Die Parlamentarier müssten sich selbst wieder ernst nehmen und sich in ihre ureigensten Angelegenheiten einmischen. Niemand brauchte deshalb um seine Wiederaufstellung zu fürchten. Im Gegenteil: Bundestagabgeordnete, die jetzt den Mut aufbrächten und dafür kämpften, dass unser Parlament wieder seinen Namen verdient, indem es tut, wofür es gewählt wurde, die Regierung zu kontrollieren, könnte mit größter Zustimmung rechnen.

Das Interview führte Ursula Pidun
Fotoquelle: Deutscher Bundestag, Achim Melde/Lichtblick

7 Responses to Kontrollmechanismen im Deutschen Bundestag außer Kraft? Interview mit Vera Lengsfeld (CDU)

  1. brd2go at 16:22

    Der/Die Bundeskanzler/in und die Bundesminister leisten den Eid vor den Mitgliedern des Bundestages. Der Amtseid lautet:

    „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

    Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. (Art. 56 Satz 2 GG)

    *************************

    § 154 StGB / Meineid

    (1) Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

    (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

    *******************************

    Noch Fragen?

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    • J.C., geb. Püschl at 18:22

      @ BRD2GO

      Der Diensteid wird nicht bei Gericht gesprochen.
      Der Bruch solch eines Eides ist kein Straftatbestand.

      Die den Eid brachen, haben sich vor dem Gesetz nicht strafbar gemacht.
      Moralisch verwerflich bleibt der Eidesbruch dennoch.

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    • Georg at 0:37

      Na dann bauen wir eine Mauer um das Parlament, und mauern das letzte Loch zu wenn sie alle drinnen sitzen. Für einige eine gewohnte Erfahrung und für die anderen eine Neue

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  2. The Punisher at 16:44

    Deutschland Vereint in Untergang.

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  3. Amkador at 19:03

    Ich bin kürzlich auf einen sehr interessanten Beitrag zum Thema Karlsruher Urteil gestoßen, dessen Lektüre ich wärmstens empfehlen möchte:

    http://www.lutzschaefer.com/index.php?id_kategorie=8&id_thema=255

    Es handelt sich um den neuesten Beitrag vom 25. Juli, ziemlich weit unten auf der Seite.

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  4. Dorothea Menges at 22:42

    Danke für dieses Interview. Ganz wesentlich finde ich diese Passage:

    „Ein Beispiel: Als Mitglied des Umweltausschusses war ich Berichterstatterin meiner Fraktion für die EU-Chemikalienverordnung. Ich bekam über 1000 Seiten Text am Abend vor der Verabschiedung im Ausschuss. Selbst wenn ich promovierte Chemikerin gewesen wäre und mehrere promovierte Chemiker an meiner Seite gehabt hätte, wäre es unmöglich gewesen, das Werk in einer Nacht durchzuarbeiten und die Folgen der neuen EU-Richtlinien für die deutsche Chemieindustrie abzuschätzen. Also bleib mir nur, als Berichterstatterin auf diese Problematik hinzuweisen und mit Nein zu stimmen. Die Chemikalienverordnung wurde natürlich trotzdem beschlossen.“

    Hierzu ist zu sagen, dass Poltitiker unter derartigen Arbeitsbedingungen völlig überfordert sind, besonnene und vernünftige Entscheidungen zu treffen.

    Es gibt offenbar keinerlei Kontrolle, die vorgelegten wissenschaftlichen Gutachten angemessen zu überprüfen, die – i.d.R. von Expertengremien erarbeitet und durch Lobbyinteressen getriggert- Politikern dann als „über Nacht“-Entscheidungen zum Durchwinken vorgelegt werden.

    Der Ansatz des EU-Chemicals-Bureau geleitet von einer EU-Kommissarin war damals, ca. 100.000 Einzelsubstanzen bzw. -Gruppen an bekannten Altchemikalien im Hinblick auf ihre Umweltschädlichkleit zu erfassen. Mit der Ermittlung der Toxizität einer einzigen Substanzgruppe war ein holländisches Forscherteam 6 Jahre beschäftigt. Die Kosten-Nutzen- Relationen eines derartigen Unterfangens und die Zeiträume, wann mit einem Abschluß dieses grotesken Großprojekts zu rechnen wäre, dürften jedem Laien a priori als absurdes Theater einleuchten.

    Das Gutachten des holländischen Forscherteams umfaßte ca. 100 Seiten und enthielt zur Risikobewertung lediglich altbekanntes Lehrbuchwissen mit etlichen vergleichsweise irrelevanten Experimenten, allerdings ohne adäquate Einschätzung eines tatsächlichen Umwelt-Risikos.
    Eine kurzes Gegengutachten kostete einen minimalen Zeit-Aufwand von ca. 14 Tagen an kritischer Literaturübersicht inclusive Stellungnahme. Die Risikobewertung für diese Substanzgruppe, die im übrigen ein essentielles Spurenelement von vielfältigem therapeutischen Nutzen enthielt, konnte zum Glück vor Verabschiedung der EU-Regulation noch gestoppt werden.

    Die Auswirkungen dieser EU-Regulation -alleine für diese einzelne Substanzgruppe-, deren umweltschädliche Risiken vergleichsweise
    zu vernachlässigen waren, hätten für einen gesamten Industriezweig in Europa mit ca. 30.000 Mitarbeitern das Aus bedeutet.

    Soweit zum Nachdenken, welchen Flurschaden einseitige, durch Lobbyinteressen getriggerte „wissenschaftliche“ Gutachten, die rein garnichts mit solider, evidenbasierter Wissenschaft zu tun haben durch blindes Durchwinken von Abgeordneten im Parlament, die mit der Materie völlig überfordert sind, anzurichten vermögen.

    Fazit: Diese Mißstände sind jedenfalls für Abgeordnete, die ihren Auftrag ernst nehmen, völlig untragbar.
    Wenn wir demnächst keine „Durchwink“-Marionetten mehr im Parlament haben wollen, bedarf es Kontrollinstanzen, die darauf achten, dass Abgeordneten keine Unterlagen zur Abstimmung vorgelegt werden, bevor in Ausschüssen und Expertengremien die wissenschaftlichen Grundlagen nicht von unabhängigen Experten nach allen Regeln evidenzbasierter Wissenschaft gegengeprüft wurden.

    Was der Wirtschaft zur Qualitätskontrolle recht ist, dürfte den Abgeordneten eines demokratischen Rechtsstaats billig sein.
    Völlige Perversion von Kosten-Nutzen-Relationen von EU-Ebene abwärts – wie oben beschrieben- können wir uns nicht leisten.
    Noch leben wir nicht in einer EU vereinigten Bananenrepublik, obgleich es bisweilen schon den Anschein hat.

    Dr. med. Dorothea Menges
    Fachärztin für Arbeitsmedizin

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  5. Ernst Laub at 0:13

    Ich bewundere diese mutige Politikerin schon lange. Eigentlich bräuchte es keine Quota für Frauen sondern für eigenständig denkende Politiker und Politikerinnen (Dies gilt nicht nur für die BRD sondern auch für mein eigenes Land, die Schweiz.)

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